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Die Gräueltaten der sowjetischen Straflager

Viele Menschen in Deutschland haben keinen blassen Schimmer, welcher Horror sich im sowjetischen Russland abgespielt hat. Zu jung für den Geschichtsunterricht, werden unsere Schüler kaum über das Thema aufgeklärt. Wer sich die Augen öffnen möchte, sollte den „Archipel Gulag“ des Literaturnobelpreisträgers Alexander Solschenizyn lesen.

Der Archipel Gulag ist in sieben Teile gegliedert:

1. Die Gefängnisindustrie

Im ersten Teil gibt Solschenizyn einen Überblick über die Personengruppen, die Opfer und Täter innerhalb der Gefängnisindustrie waren. Als entscheidenden Übeltäter identifiziert er Stalin, wobei er Lenin für die Ursprünge und ersten Auswüchse des Lagersystems verantwortlich macht. Außerdem sei das Zarenreich in vielerlei Hinsicht weniger brutal und totalitär gewesen.

2. Ewige Bewegung

Kurz und knapp wird der Transport der Gefangenen beschrieben. In engen, schmutzigen Zügen wurden sie auf teilweise eigens für die Lager gebauten Schienenstrecken in ihre neue Heimatstätte gebracht. Schlecht versorgt, im Sommer von Hitze und im Winter von Kälte gepeinigt, verstarben einige schon auf dem Weg ins Lager.

Währenddessen vergriffen sich die Wärter an den Eigentümern der Hälftlinge. Die Fahrten waren so unerträglich anstrengend und belastend, dass sogar eine Vorfreude auf das Lager entstand. Aber diese Vorfreude auf das vermeintliche geringere Übel stellte sich schnell als Trugschluss heraus: Das Lager war noch schlimmer.

3. Arbeit und Ausrottung

Im längsten Teil des Buches beschreibt Solschenizyn auf systematischer Ebene die internen und externen Umstände, die das Lagerleben charakterisierten. Zuerst erfährt der Leser, woher die Arbeitslager überhaupt kommen. Sie basierten auf den bis 1922 bestehenden Konzentrationslagern der Sowjetunion, die im Jahre 1920 bereits etwa 50.000 Gefangene umfassten.

Es werden verschiedene Gruppen von Insassen umrissen und dargestellt, inwiefern Frauen, Kinder, Jugendliche, politische sowie nicht-politische Häftlinge unterschiedlich behandelt wurden.

Außerdem analysiert er demografische Gruppen innerhalb des Lagers und zeigt, welche Umgangsformen unterschiedliche Gruppen wie Frauen, Kinder, Jugendliche, politische sowie nicht-politische Sträflinge genossen.

4. Seele und Stacheldraht

Von der systematischen steigen wir in diesem Teil auf die seelische Ebene des Lagerinsassen herab. Solschenizyn zeigt uns, wie sich bis aufs letzte Hemd beraubte Menschen verhalten und denken. Neben Verrat und gegenseitigem Misstrauen, dass auch die Bevölkerung außerhalb der Lager vergiftete, konnten einige Insassen im Lager eine neue Form der Freiheit finden.

5. Die Katorga kommt wieder

Im fünften Teil dreht sich alles um die Widerstände und Rebellionen innerhalb des Lager: um Fluchtversuche, Streiks und Aufstände. Wir lernen welche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Flucht oder einen Aufstand erfüllt sein mussten und warum diese damals nicht gegeben waren.

Die letzten beiden Abschnitte des Buchs „In der Verbannung“ und „Nach Stalin“ befassen sich mit der Ablösung der Straflager durch die Verbannungen nach Sibirien und geben einen Ausblick auf die Zeit nach Stalin.

Was sich aus diesem Meisterwerk lernen lässt

Der Zweck heiligt die Mittel

Als grundlegend atheistisches System hat der Kommunismus auch der Menschenwürde abgesagt. Zu welchem Denken und zu welcher Logik diese Verbannung christlicher Werte führt, sehen wir in Lenins Einschätzung zu den Straflagern:

„die Niederhaltung der Minderheit der Ausbeuter durch die Mehrheit der Lohnsklaven von gestern ist eine so verhältnismäßig leichte, einfache und natürliche Sache ist, dass sie viel weniger Blut kosten […], der Menschheit weit billiger zu stehen kommen wird“

„die Niederhaltung der Minderheit der Ausbeuter durch die Mehrheit der Lohnsklaven von gestern ist eine so verhältnismäßig leichte, einfache und natürliche Sache ist, dass sie viel weniger Blut kosten […], der Menschheit weit billiger zu stehen kommen wird“

Lenin in „Staat und Revolution“ (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/staatrev/kapitel5.htm)

Dass Stalin ähnlich dachte, liegt wohl auf der Hand.

Optimierungswahn & Arbeitskräfte

Als Stalin nach dem zweiten Weltkrieg der Arbeitslosigkeit den Kampf ansagte, hatte er einen simplen Lösungsvorschlag im Kopf: Eine Expansion der Arbeitslager. Und auch später in der verschuldeten Misslage der Sowjetunion sollten die Arbeitslager den wirtschaftlichen Aufschwing bringen.

Ironischerweise waren die Produkte der Arbeiter aus den Lagern von so geringer Qualität, das sie nichts taugten und damit ökonomisch wertlos waren. Somit stellte ein erheblicher Teil der Bevölkerung, der anderweitige qualifizierte Arbeit auf dem Arbeitsmarkt hätte verrichten können, unter ausbeuterischen Bedingungen minderwertige Produkte her.

Nicht grundlos zieht Solschenizyn das Fazit, dass die Lager höchstens politisch aber kaum wirtschaftlich profitabel waren. Damit deutet er ein weiteres zentrales Merkmal des Systems an: die Selbstzentriertheit des Staatsapparats. Es handelte sich um ein ausschließlich den Staatsangehörigen, namentlich den Funktionären, den Richtern, den Theoretikern und den Strafvollstreckern dienendem System, das auf Kosten der restlichen Bevölkerung – auf Kosten der Mehrheit – instandgehalten wird.

Zahlenbesessenheit

Mal abgesehen davon war sowohl die sowjetische Wirtschaft als auch Strafverfolgung durch und durch von kapitalisten Methoden durchsetzt. Allein das Prinzip einer Planwirtschaft, in der sich alles nur um Produktionszahlen dreht, ist doch die Definiton par excellence für eine Sklavenwirtschaft, die den Menschen dehumanisiert.

„Wichtig ist das Resultat!“

Slogan in der Sowjetunion

In der Strafverfolgung galten ähnlich einfallslose Regeln. Den Untersuchungseinheiten wurden gewisse Quoten vorgegeben, die sie erreichen mussten. Als Ergebnis verhafteten sie willkürlich und kompromisslos beim leistesten Verdacht, um ihre Quoten zu erfüllen. Da sind erbsenzählende Manager im Vergleich wahre Heilige.

Die Systemlinge

Wie die sowjetische Ideologie, deren Zweck alle Mittel heiligt, die Staatsdiener infiltrierte, zeigt Solschenizyn anhand eindrucksvoller Beispiele. Selbst nach der Verhaftung durch den einst so geliebten Staatsapparat blieben diese Menschen der Ideologie treu und glaubten weiterhin: „wo gehobelt wird, da fallen Späne“.

Über den Menschen im Lager

Trotz körperlichem und mentalem Ausnahmezustand (wahrscheinlich genau deswegen) war der Lagerinsasse zu beeindruckenden kognitiven und körperlichen Leistungen fähig. Ein älterer Mann fand im Lager einen so tiefen Lebenswillen, dass er als einer der Wenigen seiner Altersgruppe die harte Arbeit überlebte. Kein einziges Mal soll er krank gewesen sein bis er entlassen wurde und kurz darauf an einer Infektion verstarb.

„Wir glauben zu wenig an unser Gedächtnis!“, schreibt Solschenizyn. Im Lager blieb ihm nichts anderes übrig als sich auf sein Gedächtnis zu verlassen und scheinbar hat es ihm gut gedient. Seine poetischen Werke dichtete er einzig und allein in seinem Kopf und wenn ihm eine Zeile entfiel, dann wiederholte er sie bis zu 1000-mal bis sie ihm wieder in den Kopf kam.

Die Selbstmordfrage

Warum gab es in den Arbeitslagern trotz der grausamen Umstände so wenige Selbstmorde?

Um das zu erklären, macht Solschenizyn eine fundamentale Unterscheidung zwischen zwei Typen des Sträflings: dem unschuldigen und dem schuldigen. Der Großteil der Arbeitslagerinsassen gehörte zu den Unschuldigen. Die Ursache für ihre lebensbejahende Einstellung vermutete Solschenizyn in eben jener Unschuldigkeit des Gewissens.

„Der Selbstmörder ist immer ein Bankrotteur, ein Mensch in der Sackgasse, der sein Leben verspielt hat und nicht mehr den Willen besitzt, den Kampf fortzuführen“

Alexander Solschenizyn

Das Gewissen als oberste Instanz

„Wie oft hat er das schlechtere und schwerere Los gewählt, nur um sein Gewissen nicht zu verraten! Er hat es nicht verraten.“

Vor allem im vierten Teil finden sich eine Reihe faszinierender Personen, die besonders resistent gegenüber den zermalmenden Kräften des Lagers waren. Diese Personen hatten eine Sache gemeinsam: Sie haben ihr Gewissen zu jeder Zeit als oberste Instanz gepflegt. Sie hatten der irdischen Welt und dem Überlebenskampf abgesagt.

„der Sinn des irdischen Daseins [liegt] nicht im Wohlergehen […], wie wir gewohnt sind zu glauben, sondern in der Entfaltung der Seele“.

Die Spitzel und die Meinungsfreiheit

In einem demokratischen Land wie Deutschland sind wir Meinungsfreiheit als Grundrecht gewohnt (zumindest in Westdeutschland). Als Schüler war ich mir die Wichtigkeit der Meinungsfreiheit lange nicht klar. Bei der näheren Auseinandersetzung und vor allem durch den Archipel Gulag lernte ich, wie unverzichtbar die Meinungsfreiheit eigentlich ist.

Es gibt die These (und ich habe das Gefühl, dass Solschenizyn einige Sympathien für sie hegte), dass die Einschränkung der Meinungsfreiheit der zentrale und entscheidende Mechanismus zur Kontrolle einer Bevölkerung ist. Und anschaulicherweise findet sich im Archipel Gulag ein eindrucksvolles Beispiel für diese Theorie.

Über die gesamte russische Bevölkerung waren zur damaligen Zeit Spitzel gestreut. Man wählte seine Worte mit bedenkender Vorsicht, denn selbst die eigene Familie war nicht vertrauenswürdig (Pawel Morosows). Ziel war jegliche oppositionelle Organisation und Denkfreiheit im Keim zu ersticken. Dasselbe Prinzip fand auch in den Lagern Anwendung.

Nur gelang es einem Lager, dieses System zu brechen und eine der größten lagerinternen Rebellion vor dem Tod Stalins zu provozieren. Von einem auf den anderen Tag begannen Spitzelmörder ihr Unwesen zu treiben. Wer gegenüber den Wächtern redete, war ein toter Mann. Und plötzlich entwickelte sich eine Meinungsfreiheit, dessen Funken schnell übersprang.

„Die eigenen Leute waren es, die uns niederhielten“

Die über 1000 Lagerinsassen koordinierten sich zu einem mehrtätigen Hunger- und Arbeitsstreik. Zum ersten Mal unterhielten sich die Wärter auf Augenhöhe mit den Häftlingen und nahmen ihre Forderungen auf. Zum ersten Mal fühlten sich die Insassen wirklich „und wir […] blickten uns um und erkannten, daß wir Tausende waraen! daß wir uns zur Wehr setzen konnten“.

Fazit

Der Archipel Gulag ist ein Brocken. Selbst in der gekürzten Ausgabe enthält er so eine Unmenge an Weisheiten über die menschliche Natur aber auch historische und politische Erkenntnisse über diese Welt. Meiner Meinung nach gehört es mal wieder zu den Büchern, die Jedermann gelesen haben sollte. Und an dieser Stelle möchte ich es als besondere Lektüreempfehlung für die ausprechen, die Sympathien für den linken Rand verspüren.



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