Sahra Wagenknecht lässt die Linke hinter sich und gründet eine eigene Partei. Damit erreichen die Unruhen im politischen Deutschland einen neuen Höhepunkt. Wie kann eine Kommunistin in Zeiten des europaweiten Rechtsrucks so erfolgreich sein? Antworten finden sich in ihrem 2021 erschienen Buch „Die Selbstgerechten“.
Ein ganzes Kapitel widmet Sahra Wagenknecht diesem „Märchen vom rechten Zeitgeist“. Tatsächlich sei rechtes Gedankengut nicht annähernd so verbreitet wie die Wahlergebnisse aus Frankreich, Italien oder Deutschland vermuten lassen. Die AfD sei zum Beispiel vor allem so populär, weil sie aus Protest gewählt wird.
Genau diese Protestwähler liegen ihr besonders am Herzen. Ihnen möchte sie eine „seriöse Alternative“ zur AfD bieten. Durch das ganze Buch hinweg legitimiert Wagenknecht den Unmut jener Unzufriedenen und Politikverdrossenen, die gemeinhin ins rechte Lager abgeschoben wurden. Genau diese Menschen sind ihre Zielgruppe. Diejenigen, die sich von der Politik übersehen, nicht mehr verstanden, missachtet und schlecht behandelt fühlen.
„Nicht, weil ihnen die Zukunft unserer Erde egal wäre. Sondern weil sie ein feines Gespür dafür haben, wie unehrlich es ist, die dringend notwendige Diskussion über Wege zur Rettung von Klima und Umwelt als Debatte über Fragen des Lebensstil und der Konsumgewohnheiten aufzuziehen“, erklärt Wagenknecht beispielsweise die Aversion vieler Menschen gegenüber der Klimadebatte.
Wenn Fans in ihre Kommentare schreiben „Endlich spricht es einer aus“ oder „Danke, dass Sie die Wahrheit aussprechen, Frau Wagenknecht“, dann ist das ein klares Indikator. Viele Menschen fühlen sich von der Politik missverstanden und Wagenknecht tut genau das, was eine gute Politikerin tut, Sie kleidet diese Wut und Unzufriedenheit in Wörter, die auch im politischen Berlin akzeptiert werden und gleichzeitig vom „einfachen“ Mann verstanden werden.
Wagenknecht rationalisiert die politikverdrossenen Gefühle der Bürger. Sie erklärt ihnen, dass ihre Gefühle berechtigt sind. Sie schafft die faktische Grundlage. Sie greift die sowieso schon bestehenden Ressentiments auf und legitimiert sie mit zwar solider aber nicht hinreichender Kritik an der EU, der NATO, Ukraine, an der Migrationspolitik, Corona-Freiheitsbeschränkungen, Neoliberalismus und Klimaschutz.
Aber Wagenknecht analysiert und legitimiert nicht nur. Sie schürt und verstärkt auch Ressentiments und das auch mal weniger sachlich. Feindbild Nr. 1 sind die Linksliberalen, auch die „Selbstgerechten“ oder „Lifestyle-Linken“ genannt. Sie finden sich vor allem bei denen Grünen wieder, die die „Seiten gewechselt“ haben und sich seitdem nicht mehr für den ehrlichen Arbeiter, sondern für das akademische Großstadtmilieu einsetzen.
In ihrer Großstadtblase haben sie jeden Realitätssinn verloren. So falle es leicht in den teuren Mietvierteln für Weltoffenheit und Multikulturalität zu stehen, wo sich die migrationspolitische Realität sowieso niemals niederschlage. Und genau auf diese Rhetorik zahlt sie immer wieder ein.
Im Wagenknecht-Narrativ sind aber nicht nur die Grünen abgehoben, sondern die gesamte Politikerriege. Besonders die europäische aber auch die deutsche Demokratie sei von Korruption zerfressen und diene schon lange nicht mehr den Interessen der Mehrheit. Waren es damals die adelige Minderheit, die mehrheitlich in den Parlamenten ihre Vorrechte beschützten, sind es heute die durch Lobbyismus verdorbenen Politiker, die mit Steuergeldern horrende Beraterverträge bezahlen und anschließend selbst nach dem Drehtür-Prinzip ins Hinterzimmer wechseln.
Es sind die mächtigen Großkonzerne, Wagenknecht nennt sie auch „Interessengruppen“, die Interesse an exakt dieser Politik haben, unter der besagte Arbeiter seit Langem leiden. Es sind die Großkapitalisten, die von der Globalisierung durch billige Arbeitskräfte und Streikbrecher profitieren. Es sind die Großkapitalisten, die sich auf den internationalen Finanzmärkten mit Wetten über den Arbeitsplatz des Familienvaters eine goldene Nase verdienen. Das sind die Narrative, die gezeichnet werden: gierige Kapitalisten gegen den ehrlichen Arbeiter.
Die politische Wiedergeburt der Sahra Wagenknecht ist damit auch eine Renaissance des Klassenkampfs. Es gibt eine mächtige und wohlhabende Minderheit „da oben“ und eine Mehrheit, die sich endlich wehren muss.
Und dieses Narrativ schlachtet sie politisch aus. Eine ganz wesentliche Rolle spielt dabei ihr Underdog-Image als rebellische Stimme gegen das politische Establishment und genauso inszeniert sie sich: als Stimme der Vernunft in einem Zeitalter politischen Durcheinanders und Irrationalität. Als Gegenentwurf zum verrückten, abgehobenen Linksliberalismus und der Gier unersättlicher Großkapitalisten.