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Mein neues (englisches) Zuhause

Seit dem 10. Januar habe ich ein neues Zuhause. Na ja, es ist etwas komisch von einem „Zuhause“ zu sprechen. Wie auch immer: Ich arbeite und lebe jetzt in einer anderen Obdachlosenunterkunft als vorher und ich bin mehr als zufrieden…

Das Wohnzimmer, in dem fast den ganzen Tag Fernsehen geschaut wird!

Hintergrund

Zur Erklärung: Als Freiwilliger lebe ich zusammen mit (ehemaligen) Obdachlosen in einem Haus. Dementsprechend habe ich auch eine andere Aufgabenrolle als der klassische Sozialarbeiter in dieser Branche. Statt irgendwelche Schichten abzuarbeiten, sollen wir ein bisschen frischen Wind in die Häuser bringen, Ansprechpartner sein und ein bisschen spionieren (offen gesagt).

Das bedeutet, dass wir regelmäßig protokollieren, wie sich die anderen Einwohner verhalten, ob sie irgendwelche Probleme haben, Hilfe benötigen oder Ärger verursachen. Aber auch für Notfallsituationen ist es natürlich sinvoll uns vor Ort zu haben.

Zu Beginn meines Freiwilligendienstes war ich in der Einrichtung an der Straße „Hills Road“ eingesetzt. Seit Neuestem lebe ich aber im ehemaligen Hauptquartier der Cambridge Cyrenians: Number 4 & 6 Short Street.

Was es über das Haus zu wissen gibt

Der Ausblick aus meinem Fenster. Mittags scheint die Sonne wunderschön in mein Zimmer. Im Sommer wird’s glaube ich ungemütlich aber bis dahin ist ja noch Zeit, haha.

Mein Aufgabenbereich

Meine Aufgaben bleiben auch hier im Kern dieselben, wobei hier eine größere Präsenz meinerseits gefragt ist. Während in Hills Road praktisch jeder in seinem Zimmer blieb, laufen die Einwohner hier viel durchs Haus und freuen sich über Gesellschaft.

Bisher saß ich während meiner Arbeitszeiten in meinem Zimmer, weil sowieso nicht viel passierte, aber in Short St. herrscht eine offenere Atmosphäre, in der die Einwohner ihr Zimmer nicht nur für Küche & Toilette verlassen.

Vielleicht ließe sich eine solche Atmosphäre auch in Hills Road einführen, wobei es doch einen zentralen Unterschied gibt: die Drogen. Weil die Einwohner in Hills Road für den Spaß gerne unerlaubte Dinge tun, sind sie gut bedient diese in ihren eigenen Zimmern zu tun. Außerdem folgen sie nicht gerade einem geregelten Tagesrhythmus. Normalerweise wird tagsüber geschlafen und nachts werden sie aktiv.

Unser kleines süßes Büro. Vor allem abends ist es durch das Fenster und den warmen Lichtschein der Tischlampe echt ganz gemütlich.

Die Einwohner

Genau genommen sind 4 & 6 Short St. jeweils eigene Einrichtungen. Weil sie aber direkt nebeneinander liegen und durch einen Hinterhof verbunden sind, wurden sie zu einer Einheit zusammengefasst. In Nr. 6 leben sieben Personen und in Nr. 4 leben drei. So kommen wir auf 10 Einwohner im gesamten Komplex. Einige sieht man öfter, andere sieht man selten.

Da wäre zum Beispiel P, der nebenan in Nr. 4 lebt und für seine miese Laune bekannt ist. Er lebt seit 12 Jahren mit den Cyrenians und ist eigentlich ein ganz lieber Kerl, wenn man ihn mit etwas Freundlichkeit begegnet.

P kümmert sich nicht nur um den kleinen Garten im Hinterhof, er hat auch eine besondere Gabe für Vögel. Man könnte sagen, dass er ein Vogelflüsterer ist. Es steht nicht umsonst noch auf meiner Liste mal einen Spaziergang zu den Vögeln mit ihm zu machen.

Daneben gibt es noch neun weitere Charaktere, die in diesem Haus leben und ich bin der Überzeugung, dass sie ihren eigenen Artikel verdienen. Inwieweit ich vor dem Hintergrund von Privatsphäre und Datenschutz trotz Namensänderungen ins Detail gehen werden, wird sich herausstellen.

Die Lage

Die beiden zusammenliegenden Häuser 4 & 6 Short St. liegen im Zentrum Cambridges direkt an Maids Causeway, einem großen Kreisverkehr. Es braucht keine fünf Minuten bis man in den Einkaufsgassen, am Marktplatz oder an der berühmten Kings College Chapel ist. Direkt nebenan liegt das Grafton Shopping Centre. Am Shoppingzentrum liegt eine kleine Fußgängerzone, in der auffällig viele Charity-Shops ihren Platz finden.

Projektarbeiter & Freiwillige

Da Nr. 4 und Nr. 6 als ein großes Haus zusammengefasst werden, hat es auch nur eine Projektarbeiterin. C hat erst im September bei den Cyrenians angefangen, leistet aber meiner Meinung nach hervorragende Arbeit. C ist wahrscheinlich im mittleren Alter und strotzt trotz alledem gnadenlos von Energie. Sie hat einen guten Sinn für Humor und nimmt die Dinge nicht zu ernst, was in diesem Job sicherlich hilfreich ist. Ihre Stärke ist eindeutig der Umgang mit den Einwohnern, denen sie genau das richtige Maß an Vertrauen und Fürsorge entgegenbringt.

Genauso wie für Hills Road sind zwei Freiwillige gemeinsam für beide Häuser zuständig. Das wesentliche Geschehen spielt sich in Nr. 6 ab, wo nicht nur der Großteil der Leute wohnen, sondern auch unser kleines Büro ist. Seitdem ich hier lebe, muss ich auch nicht mehr alleine arbeiten. Denn mit dem neuen Jahr ist eine Freiwillige, namens Hannah, aus Ghana zu uns gestoßen. So arbeite ich nach mehreren Monaten endlich nicht mehr alleine.

Der Eingangsbereich: Links steht ein Computer, der auch regelmäßig genutzt wird. YouTube ist besonders beliebt.

Unterschiede zu Hills Road

Nun ist es wahrscheinlich auch spannend den Vergleich zu hören: Wie unterscheidet sich Short Street zu meiner vorherigen Unterkunft in Hills Road?

Vorteile

Die Lage

Ein unbestreitbarer Vorteil, vor allem im Vergleich zu Hills Road, ist die Lage. Durch die Lage im Stadtzentrum kann ich ab jetzt auch Erledigungen über die nötigsten Lebensmittel hinaus in kürzester Zeit ohne großen Aufwand vornehmen. Auch mal spontan auszugehen, ist eine attraktivere Möglichkeit als vorher.

Außerdem liegen Cottage (unsere Freizeitunterkunft) und Kirche direkt die Straße runter, sodass ich einfach und unkompliziert hin- und herpendeln kann. Da ich mich sowieso hauptsächlich nur zwischen Cottage, Zuhause, Gym und Kirche hin- und herbewege, bin ich darüber natürlich nicht ganz unglücklich. Mein neues Gym befindet sich übrigens direkt im anliegenden Grafton Shopping Centre.

Auch die Jogging- und Spazierrouten spielen in einer höheren Liga. Statt wie vorher Kreise durch Wohnsiedlungen drehen zu müssen(die auch ihre schönen Ecken hatten), kann ich nun jedes Mal direkt an der Cam, dem Fluss Cambridges, entlangsspazieren.

Die Einwohner

Obwohl in Short St. um einiges mehr als in Hills Road los ist – allein schon deswegen, weil es mehr Einwohner sind -, ist es insgesamt ruhiger. Sagen wir mal so: In Short St. ist wahrscheinlich im Durchschnitt mehr los ist, aber vor allem zu den Abendzeiten herrscht Ruhe. In Hills Road war es zwar überwiegend ruhig, wenn es aber zu einer Situation kam, dann waren es meist Ausnahmezustände.

So scheint es hier zum Beispiel nicht zur Tagesordnung zu gehören, dass regelmäßig Krankenwagen oder Polizeiautos vor der Tür stehen. Diese negative Unruhe erlebe ich hier überhaupt nicht und damit erklärt sich auch mein Gefühl, dass Short Street um einiges ruhiger ist.

Das Haus

Es lässt sich nicht verleugnen, dass Short St. einen eigenen Charme hat. Durch seine verwinkelten Baustil steigen die Chancen sich den Kopf zu stoßen zwar erheblich, aber dafür erlebt man auch mehr vom altmodischem englischen Baustil. Die Verwinklungen sorgen auch für eine viel gemütlichere Atmosphäre als in Hills Road. Das Gebäude dort ist ein liebloses, dafür aber großes, Haus mit viel Symmetrie und wenig Leidenschaft. Da bevorzuge ich Short Street um einiges.

Der Durchgang von Nr. 6 zu Nr. 4
Der Hinterhof und Garten, der im Winter etwas verlassen aussieht – dafür umso schöner im Sommer!

Nachteile

Größe der Zimmer

Ein klitzekleiner Nachteil ist wohl die Größe der Zimmer. Short Street als gemütliches, verwinkeltes Haus bietet weniger Platz und damit kleinere Zimmer. Ich habe immer noch keine gute Lösung gefunden, um meine Wäsche aufzuhängen und scheinbar gibt es im Winter auch keine.

Mehr Arbeit

Es klingt paradox, aber ich muss mehr arbeiten. Das hat damit zu tun, dass dieses Haus, wie gesagt, eine größere Präsenz von den Freiwilligen erwartet. Außerdem verbringt C um einiges mehr Zeit im Haus als meine vorherige Projektarbeiterin R. Das bedeutet, dass ich mich auch an meine Schichten halten muss.

Meistens nehme ich mir mein Buch oder meine Laptop und sitze mich dann ins Büro oder in die Lounge. So bin ich ansprechbar und präsent, langweile mich aber gleichzeitig nicht zu Tode.

Gerade habe ich erfahren, dass gestern mal wieder Polizei und Krankenwagen in Hills Road vor der Tür standen. Da kann ich nichts anderes sagen, dass ich heilsfroh bin dort weg zu sein…

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