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Bilanz und Gedanken zum Mindestlohn

Die Diskussion um den Mindestlohn war schon vor seiner Einführung im Januar 2015 omnipräsent. Damals gab es jedoch keine Daten anhand derer sich die Auswirkungen eines gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns bewerten ließen. Fast sieben Jahre später können wir Bilanz ziehen und den Sinn einer weiteren Erhöhung des Mindestlohns diskutieren.

Im Januar 2015 wurde der gesetzliche Mindestlohn von damals 8,50 Euro brutto pro Stunde eingeführt. Zum jetzigen Zeitpunkt – im September 2021 – liegt der Mindestlohn bei 9,50 Euro. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat in einem Artikel die Einführungen des Mindestlohns bilanziert. Dabei hangelt sich der Artikel an den angepeilten Zielen und Kritiken des Mindestlohns entlang und gelangt hinsichtlich dieser Kategorien zu folgenden Ergebnissen:

Auswirkungen auf die Beschäftigung und die Menge an Arbeitsplätzen

Skeptiker des Mindestlohns prognostizierten einen erheblichen Wegfall von Arbeitsplätzen und Entlassungen. Um zu einem differenzierten Eindruck zu gelangen, wird zwischen geringfügiger Beschäftigung und sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen unterschieden. Geringfügige Beschäftigungen sind alle Beschäftigungen, die eine monatliche Lohngrenze von 450 Euro bzw. 5400 Euro pro Jahr nicht übersteigen – Minijobs also. Sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen schließen alle Beschäftigungen ein, die ein höheres Einkommen vorsehen und somit verpflichtet sind Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen.

Tatsächlich gab es keine signifikanten Wegfälle von sozialversicherungspflichtigen Jobs. Die Zahl der Minijobs sei von rund 4,9 Millionen Beschäftigten 2014 auf rund 4,5 Millionen Beschäftigte 2019 zurückgegangen. Davon würden etwa 150.000 – 200.000 mit der Einführung des Mindestlohns zusammenhängen. Von diesen verlorenen Minijobs seien wiederum die Hälfte in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen umgewandelt worden.

Auswirkungen auf den Stunden- und Monatslohn

Wie zu erwarten hat die Einführung des Mindestlohns zu einer eindeutigen Steigerung des Stundenlohns geführt. Allerdings stellt sich beim Mindestlohn stets die Frage, wie die Auswirkungen auf das gesamte monatliche Einkommen sind. Denn es ist möglich, dass anstatt, dass Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen umgewandelt werden die Arbeitszeit gekürzt wird. Das bedeutet, dass Arbeitnehmer zwar weniger für ihr Geld arbeiten müssen, am Ende des Monats aber genauso viel Geld wie vor der Einführung des Mindestlohns besitzen. Hier zeigt die Evidenz, dass der Mindestlohn bei sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen auch zu einer Erhöhung des gesamten Monatseinkommens geführt hat. Obwohl -wie bereits genannt – Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen umgewandelt wurden, ist klar zu erkennen, dass bei einigen Minijobs schlichtweg die Arbeitszeit gekürzt wurde.

Auswirkungen auf armutsgefährdete Personen

Die Einführung des Mindestlohns soll zu einer Reduzierung der Arbeitslosengeld-II beziehenden Personen von immerhin rund 3% geführt haben. So sei die Zahl der Arbeitslosengeld-II beziehenden Personen vor der Einführung im Jahresdurchschnitt um 1,5 % gesunken. Nach der Einführung sank die Zahl der Arbeitslosengeld-II beziehenden Personen im Jahresdurchschnitt um 4,5 %.

Makroökonomische Auswirkungen

Gesamtwirtschaftlich habe die Einführung des Mindestlohns einen irrelevanten Effekt auf Preissteigerungen gezeigt. Einzelne Unternehmen, die weniger als den nun angesetzten Mindestlohn von 8,50 Euro zahlen, erhöhten infolge der Mindestlohneinführung ihre Preise jedoch signifikant. So wuchsen die Preise in einzelnen Branchen zwischen 2014 und 2016 überdurchschnittlich stark an: Taxifahrten wurden 15,2% teurer, Zeitungen und Zeitschriften wurden 10% teurer und Preise in der Gastronomie um etwa 5%, während die gesamtwirtschaftliche Inflation bei 0,8% lag. Wenn die Gewinnausfälle infolge des Mindestlohns nicht durch steigende Preise kompensiert wurden, kam es zu Investitionsstopps – wobei der Artikel der BpB zu bedenken gibt, dass Unternehmen im Niedriglohnsegment meist sowieso ein geringes Investitionsvolumen aufzeigen würden. Weiterhin habe eine Minderheit an Unternehmen versucht die zusätzlichen Kosten durch Produktivitätszuwachse auszugleichen.

Auswirkungen auf das Arbeitsklima

Die Mindestlohneinführung hat bei Profiteuren der Einführung die Zufriedenheit erhöht. Besserverdienende Beschäftigte jedoch seien teilweise unzufrieden mit der Einführung gewesen, sie wurde als ungerecht empfunden, da die eigenen Löhne nicht oder weniger als die der Mindestlohnbezieher stiegen. Des Weiteren soll die bessere Entlohnung der Mindestlohnbeschäftigten die Ansprüche an diese und ebenso die Arbeitsbelastung dieser erhöht haben.

Schlussfolgerungen

Für mich zeichnen diese Ergebnisse ein zweischneidiges Bild. Auf der einen Seite wird deutlich, dass die Befürchtungen hinsichtlich einem enormen Verlust von Arbeitsplätzen überzogen waren. Tatsächlich hat sich nämlich gezeigt, dass die zusätzlichen Kosten von dem Mehrwert dieser Arbeitsplätze überboten werden. Der Mindestlohn hat dazu geführt, dass Arbeitgeber weniger kurzfristige und schlecht bezahlte Jobs, sondern mehr sozialversicherungspflichtige und besser bezahlte Arbeitsplätze anbieten – mehr menschenwürdige Arbeitsplätze.

Genauso waren die Inflationsbefürchtungen unbegründet, denn in der Realität kam es zu einem gesamtwirtschaftlich irrelevanten Effekt. Die Preise erhöhten sich innerhalb einzelner Branchen besonders. Hier lässt sich natürlich anführen, dass die Nachfrage infolge dieses Preisanstiegs sinken würde. Dazu gab es leider keine Daten, da sich eine Kausalität zwischen Preisanstiegen und Nachfrageabnahme schlecht beweisen lässt. Allerdings bin ich überzeugt, dass hier wirtschaftliche Überlegungen zu einem gewissen Grad in den Hintergrund gestellt werden müssen. In diesem Fall geht es um menschenwürdige, gerechte und angemessene Bezahlung für Arbeit.

Das Mittelmaß

Der freie Markt unterbewertet gewisse Tätigkeiten maßlos. Es hat sich in der Corona-Pandemie deutlich gezeigt wie nie: Krankenpfleger, Arbeitskräfte im Supermarkt, Müllabfuhr, Feuerwehr, Polizei. Das sind unsere systemrelevanten Berufe. Ich selbst bin Verfechter einer Leistungsgesellschaft. Krankenpfleger und Kassierer oder Beschäftigte der Müllabfuhr mögen keine Jobs seien für die eine besondere akademische Ausbildung erforderlich ist. Das schließt doch aber nicht aus, dass diese Menschen hart arbeiten und gut sindin dem was sie tun. Wir sprechen von Leistungsgesellschaft, aber von einer 1-dimensionalen Leistungsgesellschaft, in der das zentrale Kriterium zur Quantifizierung von Leistung der Ausbildungsgrad ist. Es liegt stets die Annahme zugrunde, dass theoretisch jeder als Krankenpfleger arbeiten könnte, da ja keine besondere Ausbildung wie ein Studium notwendig sei. Tatsächlich glaube ich aber, dass der intellektuelle Jura-Student einige Probleme hätte, wenn er als Krankenpfleger arbeiten müsste. Ich möchte nicht die Leistungshierarchie vollkommen in Frage stellen, ich glaube lediglich, dass wir die rein marktliche Einschätzung von Arbeitswert überwinden müssen. Ein Markt, der geldverschiebenden Bänkern den 10-fachen Lohn eines Krankenpflegers zuweist, kann nicht die einzige Instanz zur Bewertung und finanziellen Entschädigung von Arbeit sein. Die eine Seite verschiebt Geld, um Kapitalbesitzer zu bereichern und die andere kümmert sich um Bedürftige.

Es wird deutlich, dass der Staat die Bewertung von Arbeit nicht einzig und allein dem Markt überlassen kann. Die Vorstellung, dass der freie Markt dem Menschen einen respektablen Wert zuschreibt, ist längst überholt. Über die richtige Balance zwischen marktlicher und staatlicher Bewertung von Arbeit gibt es viele unterschiedliche Vorstellungen. Der Mindestlohn ist eine essenzielle Maßnahme, um das richtige Mittelmaß zu finden.

12 Euro oder weniger?

Nun stellt sich die weiterführende Frage über die Höhe des Mindestlohns. Während die zuständige Mindestlohnkomission alle zwei Jahre die graduelle Erhöhung des Mindestlohns unter dem Gesichtspunkt möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten abwägt, fordern die Linke, SPD und die Grüne eine sofortige Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro. Diese Frage lässt sich logischerweise weniger sachlich begründet und mehr durch Überzeugungen beantworten. Denn bei dieser Frage gilt es differenziert zu agieren. Auf der einen Seite riskiert eine unmittelbare Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro, dass Arbeitsplätze verloren gehen und die Auswirkungen auf die Preise dieses Mal von größerer Bedeutung sind.

Zweifelslos ist zu erwarten, dass Arbeitsplätze verloren gehen. Wie viele es tatsächlich sein werden, ist schwer vorherzusehen. Was wir jedoch aus der Bilanz der erstmaligen Einführung lernen können, ist, dass der Mindestlohn zur Umwandlung von Minijobs zu langfristig orientierten und menschenwürdigen Jobs geführt hat. Ich bin außerdem fest überzeugt, dass sich diese Umwandlung für Unternehmen rentiert. Die Einstellung der Beschäftigten wird sich nicht nur durch einen höheren Stundenlohn verbessern, sondern auch dadurch, dass sie eine langfristige Perspektive in Form eines sozialversicherungspflichtigen Jobs erhalten. Gegner des Mindestlohns folgern ihre Kritiken des Mindestlohns gerne auf der Annahme, dass Geringverdiener schlichtweg unmotivierte Geister seien, die jede Erhöhung ihres Stundenlohns ausnutzen würden, um weiter zu faulenzen, anstatt sich in einen besseren Job zu suchen. Etwas was sich natürlich einfach sagen lässt, wenn man das 10fache für eine Stunde Arbeit erhält. Etwas was sich natürlich einfach sagen lässt, wenn man Zugang zu und Zeit für Weiterbildung hat, während Menschen zwei Minijobs arbeiten müssen, um ihre Familien über die Runden zu bringen. Eine Erhöhung des Stundenlohns ermöglicht es ihnen die gewonnene Zeit zur Weiterbildung zu nutzen oder ihren Kindern bei den Schulaufgaben zu helfen, damit zumindest die Kinder der Erfüllung des sozialen Aufstiegsversprechen einen Schritt näherkommen.

Dass es 12 Euro sein sollen, hat einen essenziellen Grund. 12 Euro ist die Schwelle, mit der eine Armutsgefährdung nahezu ausgeschlossen werden kann. Es geht hierbei um das Verhältnis zwischen Lebenserhaltungskosten und Lohn. Angesichts der steigenden Warmmieten ist eine Anpassung des Mindestlohns unvermeidlich. Tatsächlich wäre sogar eine Erhöhung des Mindestlohns auf fast 13 Euro angemessen, um ein Rentenniveau oberhalb der Grundsicherung zu garantieren.

So oder so: Eine beschleunigte Erhöhung des Mindestlohns ist unvermeidlich. Hierbei geht es um die menschenwürdige und gerechte Entlohnung von Arbeitskräften. Es geht um die Umwandlung von ausbeuterischen Minijobs zu sozialversicherungspflichtigen, langfristig orientieren Arbeitsplätzen. Keine der Befürchtungen der Kritiker hat sich in einem solchen Ausmaß realisiert, wie stets prognostiziert. Der Staat ist verpflichtet als Gegenspieler zum freien Markt bei der Bewertung von Arbeit mitzuwirken.


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