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Ein Tag in meinem Leben als Freiwilliger

Wie sieht der Tag eines Freiwilligen in der Obdachlosenhilfe aus? Welche Aufgaben und Herausforderungen erwarten einen Freiwilligen? Wie gehe ich damit um? Ich gebe Dir einen ersten Einblick in meinen Alltag. Dabei bilde ich einen Hybrid, indem ich einerseits von dem Projekt im Generellen berichte und andererseits was ich im Speziellen aus den Rahmenbedingungen dieses Projekts mache.

Es ist 06:00 Uhr. Ein penetrantes Ringen erweckt meinen eigentlich flauen Schreibtisch zum Leben. Wie jeden Morgen suche ich hoffnungslos in meinem tiefsten Inneren nach irgendeinem Grund, der meine teuflischen Dämonen im verbalen Schwertkampf davon überzeugen kann, dass ich aufstehen sollte. Es sind schon wahre Teufel, dass sie mich in meiner schwächsten Verfassung in ein rhetorisches Duell verwickeln wollen. Aber ich setze nicht grundlos auf Routine.

Nach dieser ersten Prüfung erwartet mich eine kalte Dusche, um mich ein zweites Mal an diesem Morgen auf die Probe zu stellen. Wobei für mich die eigentliche Herausforderung erst einmal darin besteht nicht ohne Handtuch ins Badezimmer zu marschieren… Ohne Handtuch in der Rückhand unter die Dusche zu gehen, weist natürlich einige strategische Schwächen auf und Springen bis man trocken ist – ich spreche aus eigener Erfahrung – erfordert einiges an Geduld. Normalerweise huscht man dann eben schnell einmal zurück ins Zimmer. Hier versuche ich aber die Badezimmertür so selten wie möglich zu benutzen. Das hat zwei Gründe:

Einerseits erinnert sie mich stark an diese hochgefährlichen Drehtüren aus dem Zoo, bei denen man als kleines Kind in ständiger Angst lebte zerquetscht zu werden und als Schimpansenfutter zu enden. Unsere Badezimmertür ist zwar offensichtlich keine Drehtür, dafür aber so unheimlich schwer, dass sie Dich in Deinen schlimmsten Vorstellungen mindestens genauso schamlos zermalmt. Andererseits erzeugt sie dabei ein tösendes Geräusch und diesen Lärm möchte ich doch gerne vermeiden. Zumal direkt neben dem Bad das Zimmer eines unserer Obdachlosen liegt. Er heißt G.K. (Namen abgekürzt und verändert) und lebt seit über einem Jahr in diesem Haus, er ist bemerkenswert höflich und zurückhaltend. Allerdings hat er ein offensichtliches Drogenproblem und raucht wie ein Schlot.

Mein Zimmer! Ja, ich habe leichte Probleme alle meine Sachen unterzubekommen, aber eigentlich klappt’s ganz gut…

Auch bei der kalten Dusche gilt: Bloß nicht drüber nachdenken. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich das Badezimmer übrigens des Rauchens verdächtigen; diese Gravuren von Asche und Tabak ließen sich mit der richtigen Vermarktung sicher als Artefakt Helmut Schmidts verkaufen. Betont werden diese Gravuren von grellem Krankenhauslicht, das perfekte Konditionen für die dringend notwendige Operation dieses verwesten Badezimmers bietet. Wie ein verschnupftes Kind seinen letzten Sauerstoff durch den leicht offenstehenden Mund bezieht, so hechelt das Badezimmer durch die auf Kipp stehenden Ornamentfenster nach entgiftender Frischluft.

Nach diesem Abenteuer gibts die erste Dosis Spritualität für den heutigen Tag. „Kundalini Yoga“ ist angesagt. Im Gegensatz zum klassischen Yoga verlangt mir diese Form weniger meiner sowieso nicht vorhandenden Mobilität ab. Für den Adrenalin-Kick folgen 10 Minuten Atemübungen á la Wim Hof Methode. So sammle ich die Energie für meinen Tag.

So sieht es aus, wenn ich mein Zimmer verlasse. Mal abgesehen davon, dass die Welt bei mir nicht schief ist und ich einfach zu verloren bin, um die Kamera gerade zu halten. Die Tür am linken Ende des Flurs ist das Badezimmer. Rechts siehst Du den Eingangsbereich und unser kleines Wohnzimmer.

Nächster Punkt auf der Tagesordnung: „Programmieren“. Ab und zu lese ich auch ein wenig in der Bibel bevor es ans Technische geht. Zu meinem religiösen Abenteuer veröffentliche ich übrigens noch einen separaten Artikel. „Programmieren“ bedeutet, dass ich für etwa ein bis anderthalb Stunden an den Aufgaben aus einem Frontend-Developer-Kurs arbeite. Da mein Zimmer leider nicht mit dem Weltprodukt namens Schreibtisch ausgestattet ist, habe ich meine Kommode zu einem hochmodernen Stehpult umfunktioniert. Trend-Konsument ohne zu konsumieren.

Mit den ersten Sonnenstrahlen geht’s für einen kleinen Morgenspaziergang nach Draußen. Von der Hauptstraße biege ich links in Richtung des heldenhaft roten Sonnenaufgangs ab, der hinter den Dächern der kleinen bunten englischen Häuser aus der Dunkelheit emporsteigt. Meistens riecht es nach frischem Regen und Erneuerung und mit jedem Schritt in Richtung Sonnenaufgang verlieren sich die Geräusche der Straße in der Ferne und ich versinke tiefer in die Entspannung.

Eine der vielen wunderschönen kleinen und gemütlichen Straßen Cambridges.

Nach dem Sonnenaufgang gibt es Frühstück. Im klassisch britischen Stil gibt es ein Omelett, ein bis zwei Scheiben kernigen Toast (wobei die Briten den hellen Toast bevorzugen), dazu einen Apfel und eine Handvoll Nüsse (weniger typisch). Ungewohnterweise muss ich jedes Mal mein eigenes Handtuch mit in unsere Gemeinschaftsküche nehmen. Obwohl in der Küche zwei Handtücher ihr Unwesen treiben, verzichte ich doch in völliger Selbstlosigkeit auf dieses Angebot. Ehrlich gesagt, stehe ich einfach nicht so auf schwarze Öl- und Rußgemälde auf blauen Küchenhandtüchern. Übrigens isst normalerweise jeder in seinem eigenen Zimmer.

Um 09:00 Uhr beginnt meine erste Schicht und ich schließe unser kleines Büro auf. Dafür steckt man den passenden Schlüssel kopfüber in das Schlüsselloch auf Bauchhöhe, dreht zur Tür hin, drückt die Tür leicht auf und hält sie mit dem Fuß geöffnet, dann zieht man den Schlüsselbund raus , dreht den passenden Schlüssel im oberen Schlüsselloch und schon lässt sich die Tür ganz öffnen; also eigentlich ganz entspannt.

Am Ende des Flurs ist unser kleines „Office“, in dem ich meine Schichten verbringe. Dort wo die Lichtstrahlen herkommen, befindet sich unsere Küche.

Meistens checke ich erstmal die E-Mails und rechne meine Kosten ab. Jedes Haus bei den Cambridge Cyrenians hat ein wöchentliches Budget. Für unser Haus beträgt dieses Budget 170 Pfund. Davon können Lebensmittel, Haushaltsutensilien oder Medikamente gekauft werden. Aus demselben Topf nehmen sich die Freiwilligen auch normalerweise ihr wöchentliches Taschengeld von 50 Pfund. Man kann sich sein Taschengeld auch überweisen lassen.

Wenn wir etwas einkaufen, nehmen wir also immer die Quittung mit. Für diese Quittung schreiben wir dann einen weiteren Beleg, der zusammenfasst in welche Kategorien diese Kosten fallen und nehmen uns den dementsprechenden Betrag aus der blauen Mappe. Auch Lebensmittel für den Eigenbedarf dürfen wir darüber abrechnen. Am Ende der Woche übertragen wir diese Quittungen in eine Excel-Tabelle und zählen das verbleibende Geld zusammen. Normalerweise geben wir nicht mehr als 100 Pfund in der Woche aus.

Das Büro. Die Wasserflasche mit dem Papierhut gehört einer unserer Projektarbeiterin. Verunstaltet wurde die Flasche von ihrem Kollegen

Nicht selten kommt es vor, dass die Quittungen (also das ausgegebene Geld) und das verbleibende Geld sich nicht zu 170 Pfund addieren. Dann müssen wir nochmal alle Belege durchgehen und die fehlende Differenz ausgleichen. Diese Excel-Tabelle senden wir per Mail an die Verantwortliche für Finanzen in unserer Organisation. Jeden Montagmorgen nehme ich dann die weite Reise vom Süden in den Nordosten der Stadt auf mich, um das Haushaltsbudget in der Hauptzentrale auffrischen zu lassen.

Links siehst Du das Büro und rechts die Küche mit der Tür zum Garten.

Um 10:30 Uhr endet meine erste Schicht und ich ziehe mich in mein Zimmer zurück. Normalerweise bin ich zu dieser Zeit nicht mehr das einzige Teammitglied im Haus. Jedes Haus der Cyrenians wird von ein bis zwei Projektarbeitern verantwortet. Die über zwanzig Unterkünfte der Cyrenians sind in fünf Kategorien eingeteilt. Der Großteil der Häuser zählt zu den sogenannten „Move-On“-Häusern. Darüber hinaus gibt es zwei Häuser für ausschließlich Frauen, ein auf Ex-Kriminelle spezialisiertes Haus, ein „Long-Stay“-Haus und zwei „Short-Stay“-Häuser.

„Move-on“-Unterkünfte dienen als Sprungbrett zurück in ein unabhängiges Leben. Sie bieten Platz für drei bis vier Obdachlose. Die „Long-Stay“-Häuser spezialisieren sich auf (meistens ältere) Obdachlose, für die eine schnelle Rückkehr in ein selbstständiges Leben eher unrealistisch erscheint. Die Einwohner der „Short-Stay“-Häuser leben dort für maximal zwei Jahre. Meine Unterkunft zählt zu diesen „Short-Stay“-Häusern.

Praktisch alle meine Mitbewohner kämpfen mit ihrer mentalen Gesundheit, Schlaf- und vor allem Drogenproblemen. Einige haben auch eine kriminelle Vergangenheit. Für beide „Short-Stay“-Häuser sind die Projektarbeiter R und A zuständig. Wobei R sich vor allem auf unser Zwillingshaus konzentriert, in dem es in letzter Zeit viele Unruhen gab.

Zum Ende meiner ersten Schicht ist mindestens einer von den Beiden vor Ort. Diese Gelegenheit nutze ich, um Fragen zu stellen oder um mich mit ihnen über Einwohner und die Situation im Haus auszutauschen. Meistens verbringen sie zwei bis drei Stunden im Haus. Die Cambridge Cyrenians sind ein besonderes Projekt und bieten ihren Freiwilligen besondere Bedingungen. Diese ungewöhnliche Arbeitszeiten sind nicht der Normalfall in der Freiwilligenarbeit. Andere Freiwillige arbeiten die gewöhnlichen sieben bis acht Stunden pro Tag.

So sieht es vor unserer Haustür aus. Die Spezialeffekte sind natürlich meiner Kamera geschuldet. Normalerweise öffnen sich vor unserer Haustür keine Risse im Raum-Zeit-Kontinuum…

Im nächsten Artikel zeige ich Dir den Rest meines Tages!

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Dafür können Sie einen Betrag Deiner/Ihrer Wahl nach gewohntem Verfahren überweisen. Folgen Sie bitte diesem Muster:

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BIC: NOLADE21LBG

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