TM

Wann kommt der Moment?

Ich frage mich, wann kommt dieser Moment, der den Startschuss gibt. Der Moment, ab dem man endlich jeden nächsten Moment und jede neue Herausforderung mit vollem Herzen annimmt. Wenn man die Freiheit gewinnt, die Herausforderung mit starker Brust und vollem Herzen zu meistern. Wenn man das letzte Mal Reue spürt, weil man von nun an jeden Moment mit einzig richtigen Ehrgeiz angeht, das Beste aus sich herauszuholen. Wenn man weiß, dass man das Beste gegeben hat und jedes Versagen nicht auf einen schwachen Willen oder ein halbes Herz zurückzuführen, sondern einzig und allein auf die äußeren unkontrollierbaren Umstände. Der Moment, ab dem sich die edle Wille über den Affekt hinaus durchsetzt. Der Moment, in dem man sich dem Tode so nah fühlt, dass man sich erst dadurch dem Leben zum ersten Mal wirklich nah fühlt. Wann kommt er dieser Moment, der einem genug Mut für den weiteren Weg von Anfang bis zum Ende schenkt – oder: wie kommt dieser Moment?

Wie oft muss ich den Dostojewski-Roman lesen, um ihn zu leben? Wie oft muss ich das Neue Testament lesen, um das Leben so anzunehmen, wie es Jesus tat? Wie oft muss ich in einen Brunnen fallen, um meiner Angst ins Auge zu schauen? Wie tief muss ich fallen, damit ich endlich klar sehe?

Die größte Gefahr liegt nicht im Zweifel. Vielmehr beunruhigt mich, wenn mich die Welt so weit einnimmt, dass die Zweifel keinen Platz mehr haben. Der Mensch, dem der Plan in die Füße gelegt wurde und ihn annimmt; der Mensch, der das Nicht-Zweifeln perfektioniert hat; der Mensch auf der Flucht, der zweifelsfreie Mensch mit 180 km/h auf der Überholspur ohne Blick in den Rückspiegel oder auf die Abfahrt. Das ist der Mensch, der mich beunruhigt. Das ist der Mensch, der mir Sorgen macht.

Und wer nicht schnell genug fährt, fliegt eines Tages aus der Bahn – eingeholt von seinen kumulierten Zweifeln und mündet in dem unerträglich Unentschlossenen, der sich für keinen Weg entscheiden kann. Der, der von der Erkenntnis über die eigene Orientierungslosigkeit auf einen Schlag überwältigt wird und sie in den gegenteiligen Albtraum umschlägt: der Mensch, der jedem von seiner Entgleisung erzählen muss und seine neue Identität einzig und allein aus dieser neuen Erkenntnis formen muss.

Wann kommt also der Moment, wo Mensch seinen Zweifeln mit offenen Augen begegnet? Ab wann beginnt der Mensch, die Weisheit in Taten umzusetzen? Ist es die unromantische Wissenschaft, die uns die Antworten liefert? Reichen Glaube, Leidenschaft und Liebe nicht? Müssen wir unseren Schlaf optimieren, Sport machen und die richtigen Lebensmittel zu uns nehmen, um ein guter Mensch zu sein? Müssen wir das Leben als ein Videospiel betrachten, dass wir mit genügend Strategie und Technik aushebeln können? Oder ist es die Liebe zum Leben und die Angst vor dem Tod, die uns zu besseren Menschen macht? Ist es die Liebe, die uns verstehen lässt, das jeder Moment zählt? Oder ist es doch die Disziplin, die uns vor der eigenen Freiheit schützt? Was ist es, das uns die Kraft gibt, um mit jeder kleinsten Handlung zum Guten in dieser Welt beizutragen? Welche Kräfte lassen uns zu Engeln werden? Welche Kräfte lassen uns dem Fremden ein Lächeln schenken? Welche Kräfte liefern uns Ruhe und Gelassenheit, um Stress und Ungeduld zu begegnen? Was treibt mich diesen Text zu schreiben?

Share the Post:

Related Posts

Die Selbstgerechten

Sahra Wagenknecht lässt die Linke hinter sich und gründet eine eigene Partei. Damit erreichen die Unruhen im politischen Deutschland einen

Read More