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Wie Menschen die Zukunft vorhersagen

Wird Russland in den nächsten drei Monaten ukrainisches Territorium annektieren? Wird im nächsten Jahr ein Land die Eurozone verlassen? Solche und weitere Fragen treiben uns alle rum, aber die meisten unserer Antworten sind Schüsse ins Blaue. Das muss aber nicht sein. Lasst uns von den Profis lernen, die die Wahrscheinlichkeit solcher Ereignisse mit faszinierender Genauigkeit vorhersagen können.

Vor mehr als 10 Jahren erschien der Bestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“ des Nobelpreisträgers Daniel Kahlemann. In diesem populärwissenschaftlichen Grundwerk zeigt Kahnemann die Welt, wie wir Menschen unsere Entscheidungen treffen. Die Überraschung? Das menschliche Urteilsvermögen funktioniert nicht ausschließlich nach den Regeln der Logik. Stattdessen verfallen wir immer wieder sogenannten „Bias“ (deutsch: Vorurteilen).

Ein bekanntes Beispiel ist der „negativity-bias“. Unsere Kognition ist darauf getrimmt, negative Erfahrungen besonders lebhaft in Erinnerung zu behalten. Gleichzeitig rücken objektiv ähnlich signifikante positive Ereignisse viel schneller in den Hintergrund. Wir empfinden sie subjektiv als weniger bedeutsam.

Diese Vorurteile verbinden sich zu sogenannten „Heuristiken“. Als Heuristiken werden Methoden bezeichnet, die benutzt werden, um auf Grundlage von wenigen Informationen zu möglichst qualitativen Ergebnissen zu gelangen. Heuristiken sind oft unsere Standartmethoden, um die Welt zu begreifen.

Die Nützlichkeit von Heuristiken ist umstritten. Aus dem simplen Grund, den Kahnemann in seinen Werken herausgearbeitet hat: Sie sind reduktionistische Modelle, die gerne zu falschen Einschätzungen führen. Gleichzeitig stehen uns oft begrenzte Ressourcen zur Verfügung. In der Praxis sind Heuristiken meist unverzichtbar.

Je mehr sich das Wissen über unsere kognitiven Verzerrungen verbreitet, desto lauter werden die Plädoyers für mehr Vernunft in der Welt. Steven Pinker ist einer der bekanntesten Denker, der vor diesem Hintergrund für die Vernunftorientierung im Sinne der Aufklärung wirbt, zum Beispiel in seinem Werk „Enlightenment now: The Case for Reason, Science, Humanism and Progress“.

Dabei vertritt Pinker eine optimistische Haltung. Demnach seien wir Menschen in der Lage, bewusst unsere kognitiven Verzerrungen zu umgehen und vernünftige Entscheidungen zu treffen. Andere Denker sind in dieser Hinsicht pessimistischer. Sie glauben, dass das menschliche Urteilsvermögen inhärent fehlerhaft ist.

Philipp Tetlock stellt die Vernunftbegabung des Menschen in seinem Buch auf die ultimative Probe. Wäre es nicht möglich, dass wir Menschen mit der Kenntnis aller relevanten Fakten über die Gegenwart die Zukunft voraussagen könnten? Einen Vorschlag in diesem Sinne unterbreitete schon der Wahrscheinlichkeitsforscher Laplace:

We may regard the present state of the universe as the effect of its past and the cause of its future. An intellect which at a certain moment would know all forces that set nature in motion, and all positions of all items of which nature is composed, if this intellect were also vast enough to submit these data to analysis, it would embrace in a single formula the movements of the greatest bodies of the universe and those of the tiniest atom; for such an intellect nothing would be uncertain and the future just like the past could be present before its eyes.“

Dass Laplace Vision wegen der Chaos-Theorie in der Realität praktisch unmöglich ist umzusetzen, wissen mittlerweile die meisten. Was passiert, aber wenn wir nach Goldilocks Regel diejenigen Zukunftsfragen heraussuchen, dessen Rahmen eine signifikant präzise Vorhersage der Zukunft erlaubt?

Mit diesem Ziel haben Tetlock & Co das „Good Judgement Project“ ins Leben gerufen. Im Rahmen einer einfachen Ausschreibung sammelten sie über die letzten 10 Jahre mehrere tausend Teilnehmer, die regelmäßig ihre Vorhersagen zu relevanten geopolitischen Fragen abgeben.

Die Fragen wurden konkret formuliert. Das bedeutet, mit einem konkreten Zeithorizont und klaren Ergebnissen. Die Antworten mussten diesem Präzisionsanspruch entsprechen und mussten in konkreten Prozentangaben abgeliefert werden.

Gemessen wurden die Ergebnisse mit dem „Brier-Score“. Ein Wert von 0 ist das beste Ergebnis, ein Wert von 2 das schlechteste. Die Rechnung sieht wie folgt aus:

Mit der Zeit kristallisierten sich innerhalb des „GJP“ eindeutige „Superforecaster“ heraus, dessen Ergebnisse die der anderen deutlich übertroffen. Dieselben „Superforecaster“ schnitten im Vergleich sogar 30 Prozent besser als Angehörige des Geheimdienstes mit klassifizierten Informationen ab und das bedeutet nicht, dass die Geheimdienstmitarbeiter besonders schlecht waren. Das bedeutet, dass die besten Prognostiker im Durchschnitt einen Brier-Wert von 0,15 erreichen.

Auch eine andere Gruppe an bekannten Wahrsagern schlugen die „Superforecaster“ bei Weitem. Wie Tetlock schon 2005 in seinem ersten Buch „Expert Political Judgement“ zeigte, sind die meisten Experten in Wirklichkeit keine Experten – zumindest nicht, wenn es um politische Urteile geht. Journalisten wie Tom Friedman, die ihren Lebensunterhalt damit bestreiten, steile Thesen über geopolitische Entwicklungen zu produzieren. Bei der genauen Analyse zeigt sich aber, dass deren Thesen im Durchschnitt nicht besser sind als die eines Schimpansen, der die Wahrscheinlichkeiten mit dem Wurf eines Dartpfeils bestimmen würde.

Und dabei wird noch außen vor gelassen, dass die meisten Vorhersagen von Journalisten und Experten wie Friedman die nötige Präzision mangelt, damit sie überhaupt klare Ergebnisse produzieren könnten. Oft sind sie so formuliert, dass sie im Nachhinein zugunsten verschiedener Realitäten ohne Probleme ausgelegt werden können.

Wie es richtig geht, zeigen besagte „Superforecaster“. Und obwohl viele Superforecaster überdurchschnittlich intelligent waren, vermuten Tetlock & Co noch viele weitere Eigenschaften als genauso wesentlich für ihre hervorragenden Leistungen.

Vorsichtig: Nichts ist sicher.

Bescheiden: Realität ist unendlich komplex.

Non-deterministisch: Was passiert, ist nicht dazu bestimmt zu passieren.

Offen für neue Erfahrungen: Glaubenssätze sind Hypothesen, die getestet und nicht wie Schätze beschützt werden sollen.

Intelligent und gebildet: Intellektuell neugierig, mögen Rätsel und mentale Herausforderungen.

Reflektiert: selbstkritisch.

Rechenkundig: sicher im Umgang mit Zahlen.

Pragmatisch: nicht an eine Idee/Vorstellung gebunden.

Analytisch: können die Dinge objektiv betrachten.

Dragonfly-eyed: schätzen unterschiedliche Meinungen und synthetisieren mit großer Differenziertheit.

Gute intuitive Psychologen: sind sich ihrer kognitiven Verzerrungen bewusst.

Growth-Mindset: glauben daran, dass sie sich verbessern können.

Neben diesen Eigenschaften, die wir uns als Vorbild nehmen können, haben Tetlock & Co außerdem zehn Leitlinien für den Beginner aufgestellt. Allein das Lesen dieser Leitlinien konnte die Präzision von Prognosen um durchschnittlich 10 Prozent steigern. Eine Zusammenfassung dieser Leitlinien habe ich hier verlinkt (https://fs.blog/ten-commandments-for-superforecasters/).

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