1992: Der europäische Rat unterzeichnet den Vertrag von Maastricht – Die Gründung der EU ist vollkommen. Zwei unabdingliche Bedingungen der Deutschen für den Beitritt:
- Die neue Europäische Zentralbank muss unabhängig sein
- Als Ziel der Bank wird die Preisstabilität festlegt
Erfahrungsgemäß, empirisch gelten unabhängige Zentralbanken als erfolgreicher darin eine Preisstabilität zu garantieren. Unabhängig bedeutet, dass kein Staat in die „Politik“ dieser Banken eingreifen darf. Beide Vorraussetzungen waren letztlich des selben Zwecks. Keine Inflation oder das Gegenteil – Deflation.
Nun gab es ein Urteil vom Bundesverfassungsgericht, das die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank in Frage stellt. Die EZB soll, ihrer Unabhängigkeit wegen, keine Staaten finanzieren oder Wirtschaftspolitik betreiben. Stattdessen kauft sie Staatsanleihen privater Banken. Mit dieser neu gewonnen Liquidität können Banken wieder Geld in die Wirtschaft „pumpen“. Einerseits ist dieses Programm, das „Public Sector Purchase Programme“ (PSPP) wichtig für den Zusammenhalt der EU. Andererseits wird das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), das diese Anleihen als legitim einstufte, übergangen. Das BVG aus Karlsruhe stellt sich über geltendes EU-Recht. Es argumentiert: Die Nebenwirkungen der Anleihen, wie sinkende Sparzinsen, steigende Wohnungspreise, den Anreiz für viele Regierungen, auf Pump zu leben, seien nicht ausreichend bedacht worden. Jetzt hat die EZB drei Monate Zeit zu beweisen, dass sie eben doch verhältnismäßig abgewogen hätten. Des Weiteren übt dieses Urteil Druck auf die Bundesregierung aus, diese Rechtmäßigkeit zu überprüfen.
Von Kritikern nun Zurecht kritisiert, öffnet dieses Urteil Tür und Tor für EU-kritische Mitgliedsstaaten. In diesem Kontext werden oft Ungarn unter dem Diktator Viktor Orbán genannt oder Polen. Beide Staaten beugen sich nicht gerne dem EU-Recht. In Polen beispielsweise initiierte die nationalkonservative Regierung die „Disziplinarkammer“ mit der Macht Richter und Staatsanwälte zu entlassen. Anfang April sprach der EuGH der EU-Kommission nun offiziell das Recht zu, Polen bei einer Nicht-Aussetzung der Disziplinarkammer zu „bestrafen“. Dieses Urteil könnte nun angefochten werden. Sie könnten sich auf das Urteil des obersten Gerichts des wichtigsten Mitgliedsstaats stützen.
Egal welche Zeitschrift man liest. Es gibt einen Konsens gegenüber dem Urteil. Das BVG überschreitet mit diesem Urteil eine Grenze. Es stellt sich über den EuGH und über die unabhängige EZB. Es öffnet Tür und Tor für EU-feindliche Nationalisten. Außerdem sei es schlichtweg der falsche Zeitpunkt angesichts der drohenden Rezession und der momentan besonders starken Abhängigkeit von Staatsanleihen, um solch ein Urteil zu fällen.
Meiner Meinung nach ist dieses Urteil richtig:
Zuallererst, der Zeitpunkt mag unpassend sein, doch orientieren sich Gerichte eben nicht am Zeitpunkt ihrer Urteilssprechung. Sie sind keine Politiker, sie sprechen das Recht, sie sind die Judikative.
Überschreitet das BVG seine Kompetenzen, indem es sich über den EuGH stellt? Besonders da, wo doch das EU-Recht über dem nationalen Recht stehe. In der jetzigen Form der EU hat eher der EuGH seine Kompetenzen überschritten, in dem Fall, dass die Staatsanleihen nicht unabhängigen Ursprungs seien. Auch, wenn ich mir wünschen würde, dass die EU mehr Spielraum hätte, sie hat es leider nach geltendem Recht nicht. Folglich hat das BVG jedes Recht diese Handlungen in Zweifel zu ziehen. Das muss es auch, denn ist seine Aufgabe die Verfassung zu schützen, auch wenn das Urteil solche politisch schwerwiegenden Folgen hat. Ich sehe diese Folgen auch nicht gerne. Solange dieses Urteil rechtmäßig und gut durchdacht ist, ist es die richtige Entscheidung. Alles andere wäre ein Dammbruch und widersprüchlich zu den Aufgaben unseres obersten Gerichts.
Öffnet das Urteil Tür und Tor um jedes EU-Urteil anzufechten? Na ja, in gewisser Weise schon, es bietet jedenfalls einen Präzedenzfall, der ein solides Argument bietet. Genau deshalb gilt es jetzt dem EuGH und der EZB den Rücken zu stärken. Die Folgen des Urteils lassen sich mit geschickten diplomatischen Fähigkeiten zum eigenen Vorteil nutzen. Ja, es ist definitiv gefundenes Fressen für nationalistische Populisten. „Schaut mal, die EU schränkt seine Mitgliedsstaaten ein – sie sind Schuld an all euren Problemen, wählt uns und euch geht es besser“. Dieser Arbeit muss man aber entgegenwirken und das mit soliden Gegenargumenten, von denen es genug gibt.
Erstmal zeigt es, dass das BVG nicht dafür zurückschreckt das EU-Recht zum Schutz der nationalen Verfassung anzugreifen. Wenn es davor nicht zurückschreckt, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass jede widerrechtliche Einschränkung offenbart wird und kontrovers diskutiert wird. Niemand untergräbt hier nationale Autorität.
Zweitens, ist es das erste wirkliche Urteil, dass das EU-Recht in Zweifel zieht. Niemand ist fehlerfrei, auch die EZB bzw. die EU nicht. Aber beweist der Fakt, dass es keine weiteren, rechtlich verfolgten Verfehlungen gibt nicht, wenigstens teilweise das Bild einer Union, die nach festgelegten Rechten handelt und sich an diese auch hält. Besonders angesichts dessen, dass die einzige geahndete Verfehlung, die der EZB, nicht einmal endgültig ist. Und selbst wenn die EZB nicht beweisen kann, dass sie die Folgen abwog, ist es nicht der Untergang der nationalen Unabhängigkeit.
Letztendlich beweist dieses Urteil nur das genaue Gegenteil der Aussagen der EU-Kritiker – Die EU kann eben nicht ungeschoren in die Kompetenzen der Mitgliedsstaaten angreifen. Trotzdem gilt es jetzt dem EuGH den Rücken zu stärken, damit nach dem EU-Recht illegitime Vorgehen wie die Disziplinarkammer in Polen, nicht durchkommen. Dies wiederum liegt in der Verantwortung der Politik, genau diese müssen die Folgen bedenken, nicht die Richter des Bundesverfassungsgerichts.