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Cottages, Colleges und Kameras

Um 10:30 Uhr endet meine erste Schicht und ich ziehe mich in mein Zimmer zurück. Normalerweise bin ich zu dieser Zeit nicht mehr das einzige Teammitglied im Haus. Jedes Haus der Cyrenians wird von ein bis zwei Projektarbeitern verantwortet. Die über zwanzig Unterkünfte der Cyrenians sind in fünf Kategorien eingeteilt. Der Großteil der Häuser zählt zu den sogenannten „Move-On“-Häusern. Darüber hinaus gibt es zwei Häuser für ausschließlich Frauen, ein auf Ex-Kriminelle spezialisiertes Haus, ein „Long-Stay“-Haus und zwei „Short-Stay“-Häuser.

„Move-on“-Unterkünfte sollen als Sprungbett zurück in ein unabhängiges Leben fungieren. Sie bieten Platz für drei bis vier Obdachlose. Die „Long-Stay“-Häuser hingegen spezialisieren sich auf (meistens ältere) Obdachlose, für die eine schnelle Rückkehr in ein selbstständiges Leben eher unrealistisch erscheint.

Die drei elementaren Kategorien von Unterkünften bei den Cambridge Cyrenians

Meine Unterkunft zählt zu den „Short-Stay“-Häusern. Unsere Einwohner leben maximal zwei Jahre hier. Bei uns kommen die Obdachlosen unter, die zwischen dem Status von „Long-Stay“-Einwohnern und „Move-On“-Einwohnern stehen. Praktisch alle meine Mitbewohner kämpfen mit ihrer mentalen Gesundheit, Schlaf- und vor allem Drogenproblemen. Viele haben auch eine kriminelle Vergangenheit, wobei niemand eine schlimmere Straftat als mehrfachen Raub begangen hat. Für beide „Short-Stay“-Häuser sind die Projektarbeiter R und A zuständig. Wobei R sich vor allem auf unser Zwillingshaus konzentriert, in dem es in letzter Zeit viele Unruhen gab.

Wenn die Beiden vor Ort sind, tauschen wir uns kurz über die Lage aus und besprechen Plan und Aufgaben für die nächsten Tage. A ist ein wirklich lustiger Typ. Normalerweise trägt er eine dunkle Jeans und eine dunkle Jeansjacke und ein einfaches T-Shirt. Er ist ein kleinerer Mann, der schon leicht gebeugt geht und ein ovalförmiges, genauso wie seine kräftigen Hände, von ehrlicher Handarbeit gekennzeichnetes Gesicht. Leider geht er im Januar in Rente. Ich muss mich also daran gewöhnen, dass es in Zukunft weniger zu lachen gibt. Teilweise musste ich bei seinen kindischen Gesten und Grimassen wirklich Tränen lachen.

Die Zeit nach meiner ersten Schicht nutze ich zum Schreiben. In diesen Zeitfenstern entstehen Artikel wie dieser. Noramlerweise schreibe ich für etwa 90 Minuten, also bis 12:00 Uhr. Je nach Zeitplan breche ich meine Schreibeinheit aber mal 20 bis 30 Minuten früher ab. Montag ist einer dieser Tage. Denn um 14:00 Uhr muss ich in unserem Cottage zum Volunteers Meeting sein. Wenn ich vorher noch einen kleinen Mittagsschlaf machen und danach ins Gym möchte, bleibt mir keine andere Wahl.

Für meinen Mittagsschlaf verwende ich ein „NSDR-Protokoll“. Dabei handelt es sich um eine geführte Entspannungsmeditation. Wer über die vielen Vorteile von NSDR lernen möchte, dem empfehle ich mal bei Dr. Huberman in den Podcast reinzuhören. Nach 10 bis 20 Minuten Entspannung, geht’s auf ins Gym.

Mein Fitnessstudio heißt „PureGym“ und ist im großen Freizeitgebäude etwa 2 Minuten von mir Zuhause entfernt. Im Gegensatz zu deutschen Fitnessstudios bekommst du tatsächlich einen fairen Preis ohne für 12 Monate an einen dubiosen Vertrag gebunden zu werden. Ich bezahle 15 Pfund im Monat und kann bis drei Tage vor dem nächsten Zahlungstermin kündigen. Unter der Woche darf ich zwar nur zwischen 12:00 Uhr und 15:30 Uhr trainieren, was bei meinem Arbeitszeiten aber super passt. Das Studio glänzt nicht unbedingt mit überragender Ausstattung, aber für einen Anfänger bieten sie alle Geräte und einen soliden Freihantelbereich dazu.

Im Fitnessstudio sind viele Leute im selben Alter wie ich, die in ihren Mittagspausen dort ins Gym gehen. Denn gegenüber von meiner Unterkunft liegt mit etwa 2000 Vollzeitschülern eine der größten Schulen Cambridges. Neben diesen 2000 Vollzeitschülern gibt es etwa 4000 weitere Teilzeitschüler, die eine Reihe an anderen Kursen belegen. Die Vollzeitschüler sind 16 bis 19 Jahre alt und belegen sogenannte „A-Level“-Kurse, was das britische Äquivalent zum Abitur ist. Vor allem zur Mittagszeit strömen dementsprechend schiere Massen an Jugendlichen aus und in dieses Gebäude.

Dieses sogenannte „Sixth Form College“ zählt zu den Top drei Schulen ihrer Art. Sie werben damit, dass etwa einer aus sechszehn Absolventen entweder nach Cambridge oder Oxford geht. In einer Stadt wie Cambridge spürst Du diese Leistungskultur, die wir in Deutschland nicht gewohnt sind. Hier sollen Jugendliche schon im jungen Alter zu ehrgeizigen und leistungsorientierten Individuen erzogen. Welche Schule Du besuchst, sagt in dieser Stadt viel über Deinen sozialen Status aus.

Nach einer schnellen Dusche und einem kleinen Mittagessen mache ich mich mit meinem Fahrrad auf den Weg zum Meeting. Cambridge ist Fahrradstadt und bietet eine mehr oder weniger akzeptable Infrastruktur für Fahrradfahrer, wobei der Verkehr im Cambridge im Allgemeinen ein völliges Desaster ist. Das hat auch damit zu tun, dass sich weder Fußgänger noch Fahrradfahrer in irgendeiner Form an die Verkehrsregeln halte. Ampeln werden vor allem überquert, wenn sie rot sind und auf keinen Fall, wenn sie grün sind und als Fahrradfahrer hältst Du bei roten Ampel nur an großen Kreuzungen – selbst wenn Du auf der Straße fährst.

Auf meinem Weg zum Cottage fahre ich an dieser großen Wiese namens „Parkers Piece“ vorbei. (Dieses Bild habe ich geschossen als ich noch kein Fahrrad hatte und zu Fuß unterwegs war) (Ja, ich weiß, Man sieht nicht so viel, aber ich hatte kein besseres Bild zur Hand… Ich muss mir mal angewöhnen regelmäßig wie ein Touri Fotos zu schießen…)

Mein Fahrrad habe ich übrigens von der Kirche bekommen, nachdem es mein Arbeitgeber trotz mehrfacher Ankündigung nach fast zwei Monaten immer noch nicht geschafft hat uns Fahrräder zu organisieren.

Unser Cottage liegt in einer Nebenstraße der Newmarket Road. Zwischen zwei Hauswänden führt eine kleine gemütliche Gasse mit einem Kieselsteinboden zu unserem zweiten Zuhause. Jedes der Cottages hat einen kleinen grünen Vordergarten (unserer ist völlig verwuchert und bräuchte dringend ein wenig Pflege). Unmittelbar im Eingang steht eine längliche Couch auf der meistens meine Co-Freiwillige Emma und Kevin Platz nehmen. Ich schließe die Tür hinter mir und begrüße die anwesenden Projektarbeiter.

So kannst Du Dir ein Cottage vorstellen. Quelle: T-Online

Beim Volunteers Meeting besprechen wir in gemeinsamer Runde mit einem oder mehreren Teammitgliedern die aktuell Lage in unseren Häusern. Unsere direkte Vorgesetzte schalten wir für gewöhnlich per Zoom dazu, weil sie montags von zu Hause arbeitet. Bisher haben wir in diesen Meetings hauptsächlich die Lager unserer Einwohner besprochen. Unsere Vorgesetzte hat uns aber erklärt, dass es in der Vergangenheit auch Themen gab, die einzelne Meetings völlig dominiert haben. Vor allem bei schwierigen Situationen können wir in diesen Meetings um Tipps bitten und alle auf den aktuellen stand bringen.

Das ist die Aussicht vom Cottage

Gegen 15:00 Uhr bin ich etwa vom Volunteers Meeting zurück. Momentan lese ich ein religiöses Buch mit dem Titel „The Reason for God“. Davor habe ich „Deep Work“ gelesen. Nach etwa einer Stunde, um 16:00 Uhr, beginnt meine zweite Schicht. Es gilt dasselbe Prozedere. Büro aufschließen, E-Mails checken und sich um den Haushalt kümmern. Meistens gibt es Nachmittags nicht viel zu tun und ich nutze die Zeit um Wäsche zu waschen, zu staubsaugen oder andere Haushaltsaufgaben zu erledigen. Nicht selten telefoniere ich in diesem Zeitfenster mit Freunden oder Familie.

Ab und zu beschäftige ich mich auch mit unserem Kamerasystem. Unser gesamtes Haus und seine Eingänge sind kameraüberwacht. Die Aufnahmen können von allen Teammitgliedern remote per Computer, Laptop oder Handy aufgerufen werden. In unserem kleinen Büro haben wir explizit für diesen Zweck einen Computer stehen. Nicht lange hat es gedauert bis ich mich in das Kamerasystem eingefuchst habe. Einmal habe ich zum Beispiel für eine Anfrage aus dem Gefängnis nachvollzogen, zu welchen Zeiten einer unserer Einwohner bei uns im Anwesen war und wann nicht.

Gegen Ende meiner zweiten Schicht um 19:00 Uhr beginne ich meistens mir etwas zu kochen. Ich würde Dir gerne erzählen, welche atemberaubenden Delikatessen ich mir zaubere, aber ehrlich gesagt koche ich simpel und wenig ausgefallen. Bisher habe ich kein einziges Mal mehr als einen einzigen Topf verwendet und bin damit gut klar gekommen. Offen gesprochen, würde ich auch gerne mal den Ofen verwenden, aber alle unsere Bleche und der Ofen an sich sind auf eine Weise verschmutzt, die mir wirklich jeglichen Appetit raubt.

Mindestens zwei Abende in der Woche gehe ich zu einer Abendveranstaltung. Die Colleges der Universität laden nicht selten Experten und Prominente für einen Talk ein. Einige Veranstaltungen sind für alle zugänglich. An einem Abend habe ich mir zum Beispiel in der Trinity Hall einen Vortrag eines deutschen Professors zum Thema Biodiversität angehört, der nicht nur inhaltlich spannend war, sondern auch mit einem Sektausschenk vollendet wurde. Der Kellner kam sogar zu mir, um mir nachzuschenken. Da habe ich mich ganz schön wohlhabend gefühlt.

Eine virtuelle Tour durch die Trinity Hall.

Im Generellen sind die Colleges einfach wahre Prachtwerke. Bei dem Anblick dieser gewaltigen Gebäude muss man einfach demütig werden und für einen Augenblick innehalten.

Ab und zu gehen wir Freiwillige unter der Woche auch mal aus: in einen Pub, Club oder ins Kino. Wenn ich mal nicht ausgehe, verbringe ich meinen Abend in meinem Zimmer, gönne mir manchmal etwas sündhaft Süßes und schaue eine Serie oder lese einen Roman. Momentan lese ich Dostojewskis „Brüder Karamosow“. Eine absolute Empfehlung.

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