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Ein magisches Wochenende in Maddingley Hall – Teil 2

Es ist der nächste Morgen. Um 09:00 geht’s los in Maddingley Hall. Gegen 08:30 Uhr soll ich bei Carrie & Ruth sein, die mich netterweise mitnehmen werden. Obwohl ich zu spät aufbrach, schaffte ich es dank meiner gut trainierten Gehgeschwindigkeit rechtzeitig bei den Beiden vor der Tür zu stehen.

Zufälligerweise wohnen die beiden Power-Damen nur zwei Häuser weiter von meiner jetzigen Unterkunft in der Short Street. Scheinbar leben sie zusammen mit einem mittelalten Mann, der auf mich einen überdurchschnittlich gepflegten Eindruck erweckte.

Durch die Hintertür gehen wir zum Parkplatz und ich platziere mich auf den Rücksitz des Autos, das mich am Vortag noch beinahe umgefahren hätte. Im Gespräch stellt sich heraus, dass Carrie & Ruth beide als Lehrerinnen arbeiten; tatsächlich aber nicht in irgendeiner Schule. Die Beiden gründeten zusammen das Red Balloon Projekt. Angefangen bei Carrie zuhause spezialisierten sie sich auf Schulkinder, die aufgrund von mentalen Problemen, Mobbing oder anderen Ursachen nicht mehr zur Schule gehen wollen.

Statt sie sich selbst zu überlassen, bietet Red Balloon spezifische Unterrichtsangebote und Hilfestellung. Was als kleines Projekt anfing, erstreckt sich mittlerweile über acht Standorte in ganz England.

Das ist ein altes Video, indem Carrie Red Balloon erklärt.

https://www.redballoonlearner.org/about/

In Maddingley Hall angekommen, schnappten wir uns noch etwas von dem Frühstück. Das Buffet war eigentlich für Übernachtungsgäste reserviert, aber Carrie war sich sicher: „Sonst schmeißen sie’s weg“ . Und wenn Carrie für etwas die Erlaubnis gibt, dann greife ich auch zu.

Kleine Zugabe zur Potato-Story

Nach der kleinen Stärkung (zu viele Croissants…) ging es hinauf zum Kursraum, wo uns gleich eine sehr kreative Aufgabe erwarten wird. Also genau das, was man von einem „Creative Writing Kurs“ erwartet. Bevor wir aber einsteigen: Mir ist noch ein Kommentar von Lizzy oder Derek (ich bin mir nicht mehr sicher, wer von Beiden) zu meiner Kurzgeschichte eingefallen. Ich paraphrasiere : „Kafka hätte das gefallen“.

Das war eigentlich ein ehrenwertes Kompliment, wäre da nicht die Gegebenheit, dass ich Kafka in der Schule absolut gehasst habe. Tatsächlich ist Kafka und sein extravagantes Denken zu einem Meme in unserem Deutschkurs geworden. Auf dem Gruppenbild unserer Whatsapp-Gruppe ist er immer noch zu sehen.

Dinge, Dinge, Dinge & Kopf ab

Vorne am Pult hatten Derek & Lizzy eine Vielzahl an verschiedensten Gegenständen aufgereiht. Jeder sollte sich einen Gegenstand aussuchen und sich eine Geschichte dazu ausdenken. Auf eine Art und Weise war es ähnlich wie die Aufgabe vom Vortag, sich eine Geschichte rund um ein Bild auszudenken. Wobei in diesem Fall die (eigentliche) Idee war, dass sich nicht die ganze Geschichte rund um den Gegenstand aufbaut. Der Gegenstand sollte eher eine nebensächlichere Rolle spielen.

Auf dem Tisch fanden sich Spielzeugautos, ein alter Kompass, antike Schmuckstücke, staubige Landkarten und vieles mehr. Nach einiger Unentschlossenheit entschied ich mich für eine muskulöse, superheldenähnliche und leider kopflose Spielfigur und dachte mir eine Geschichte aus, die ich im Folgenden grob wiedergeben möchte:

Im Kern ging es um einen jungen Mann, dessen Vater ein berüchtigter und respektierter Ritter war. Von seinen Söhnen wünschte er sich, dass sie in seine Fußstapfen treten und den Familiennamen mit Stolz in die Schlacht tragen. Der besagte Sohn, nennen wir ihn Jack, war im Gegensatz zu seinem Bruder aber überhaupt kein Krieger. Als ältester Sohn fühlte er sich von seinem Vater und dessen Prestige sehr stark unter Druck gesetzt. Er war ein schmächtiger, neugieriger und verspielter Junge, der lieber redete, dachte und dichtete als rannte, brüllte und kämpfte.

So vergingen die Jahre und wiederholt enttäuschte er seinen Vater, während sein weniger sensibler Bruder den Wünschen des Vaters immer gerechter wurde. Wie es unweigerlich kommen musste, kam es zu einem Krieg und beide Söhne mussten in die Schlacht ziehen. Und wie es ebenso unweigerlich kommen musste, unterlag der besagte Sohn dem Feind und sein Kopf wurde abgeschlagen.

(Wenn ich so drüber nachdenke, hätte sich die Geschichte nochmal verbessern lassen: Nicht in der Schlacht verliert er seinen Kopf, sondern unter der Guillotine. Aus Angst vor der Schlacht türmt er und verrät sein eigenen Soldaten. Sein Vater und sein Bruder sterben in der Schlacht und aus Reue und unter geplagtem Gewissen, liefert er sich aus und wird hingerichtet.)

Nachdem er seinen Kopf verlor, starb der Junge aber nicht. Stattdessen fühlte er sich so frei wie nie und nur sein Herz regierte über sein Handeln. Er beginnt sich zu entwickeln, wird stärker und waffengewandt. Und seitdem er seinen Kopf verloren hatte, war er furchtlos. Er ließ sich von nichts beängstigen. Ab hier verkürze ich: Es kommt zur erneuten Schlacht und er spielt eine tragende Rolle beim Sieg über den Feind.

Ich weiß nicht, wie ich auf diese Geschichten komme. Wie auch immer: Erneut erhielt ich ein sichtbar positives Feedback und vor allem Dereks staunender Blick (so interpretierte ich ihn jedenfalls), gefolgt von den Worten: „You really should write fiction. You have the mind for it“ blieben mir in Erinnerung.

Wie gesagt, war es mein erstes Mal ernsthaftes fiktives Schreiben und es war auch nicht der Grund warum ich hier war, aber ich freute mich natürlich über die Wertschätzung.

Tee, Kaffee, Kekse

Tee- und Kaffeepause war angesagt und wir wurden mit einer Menge an Tee und Kaffee versorgt, haha. Zu Tee sage ich nicht Nein und vor allem an den Keksen vergriffe ich mich schamlos. Es muss in einer dieser Pausen gewesen sein, dass Lizzy noch einmal zu mir kam und ausdrückte, wie gut ihr meine Geschichte vom Vorabend gefallen hatte.

Beim Tee & Kaffee gab es sowieso eine breite Durchmischung, sodass ich viele Teilnehmer etwas näher kennenlernen konnte. Da wäre zum Beispiel Janet, wobei wir uns beim Lunch ersst wirklich ausführlicher kennenlernten. Von Janet hing ein Porträit an den Wänden von Maddingley Hall. Sie hatte bereits über 100 Kurse des ICE besucht. Außerdem wusste sie so einiges über Jane Austen. Sie war eine liebenswürdige ältere Dame.

In der nächsten Kurseinheit drehte sich alles um unsere deskriptiven Fähigkeiten. Wie beschreibt man als Autor bestmöglich die Umgebung oder eine Situation? Wie erzeugt man das gewünschte Setting und die gewünschte Atmosphäre?

Wie so charakteristisch für diesen Kurs, sollten wir einfach drauf loslegen und einen uns bekannten Ort möglichst eindringlich beschreiben. Leider, und das sage ich mit besonderem Bedauern, weil ich mir unbedingt Kritik für meine Beschreibungen gewünscht hätte (eine meiner größeren Unsicherheiten), verstand ich die Aufgabe falsch und beschrieb einen fiktiven Ort.

Offen gesagt sind mir die Merkmale und Gegebenheiten des Ortes überwiegend entfallen, aber ich erinnere mich an eine düstere Atmosphäre von Regen, Gewitter und einem heraufziehenden Sturm. Gott, warum ich immer so düstere Motive in meinen Geschichten habe, kann ich mir auch nicht erklären… Dasselbe gilt für meine Gedichte, wobei ich glaube, dass diese noch um einiges bedrückender sein können als meine Kurzgeschichten…

Lunch

Beim Lunch lernte ich Tania näher kennen. Tania hatte eine faszinierende Familiengeschichte, über die sie schreiben wollte. Sie hatte russische und deutsche Verwandtschaft. Ihr Großvater war russischer Soldat und führte während des Krieges eine Beziehung mit einer deutschen Frau. Zusammen bekamen sie ein Kind und obwohl er erneut heiratete, schrieb dieser Großvater, wie sich nach seinem Tod herausstellte, sein ganzes Leben lang Briefe an seine deutsche Frau. Jetzt möchte sie diese Familiengeschichte in einem Buch aufarbeiten.

Mal abgesehen davon, hatte sie ein eigenes Unternehmen. Sie bietet Sprachkurse im Internet an und wir unterhielten uns ausführlich über ihren Lebenslauf und Unternehmertum. Ich glaube, ich bin mit dem Zählen irgendwann nicht mehr mitgekommen, so viele bizarre Universitätsabschlüsse konnte sie vorweisen. Es waren Abschlüsse in verschiedenen Sprachen, Linguistik und kulturbezogenen Studiengängen dabei. Wie auch immer: Dieser internationale Bildungshintergrund, aber auch der persönliche Hintergrund bewegten sie dazu, ihr eigenes Unternehmen zu gründen.

Ehrlich gesagt, sah sie nicht unbedingt aus wie eine Unternehmerin, weswegen mich ihre Geschichte etwas überraschte. Aber in ihrem Charakter steckte mit Sicherheit etwas von dem speziellen, in einem mehr oder weniger gesunden Sinne realitätsfernen Selbstvertrauens, das so bezeichnend für diese Menschen ist.

Geister überall – ich find Geister langweilig

Für unsere Mittagspause organisierten Lizzy & Derek eine Tour durch das gesamte Anwesen. Das taten sie auch vor dem Hintergrund, dass wir als nächste Aufgabe eine Geschichte schreiben sollten, die exakt in diesem Anwesen spielte. Geister waren ein sehr beliebtes Motiv, aber dazu später mehr.

Garten (https://www.madingleyhall.co.uk/gardens)

Maddingley Hall hat eine Reihe an spannenden Geheimwegen und schicken Konferenzräumen. Auch der riesige Garten mit seinen uralten Bäumen war wirklich beeindruckend. Einige der Bäume datieren sogar bis zurück in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Es gab auf jeden Fall eine Menge Potenzial für eine Geschichte rund um Maddingley Hall.

Derek erzählte uns, dass der damalige Besitzer Sir John Hynde Cotton im 18. Jahrhundert das unmittelbar anliegende Dorf komplett umsiedeln ließen. Warum? Ein einfacher Grund: Er wollte nicht, dass das einfache Fußvolk in der Nähe war und vor allem nicht, dass sie seine Aussicht beschmutzten. Bleiben durfte einzig und allein die kleine Ortskirche.

Die Geschichte mit dem König oder so

Wie es sich für ein altes englisches Anwesen gehört, gibt es natürlich auch eine royale Geschichte zu erzählen. So mietete Queen Victoria 1861 das Anwesen für ihren Sohn, Prinz Edward von Wales, der an der Cambridge University studierte. Prinz Edward machte seinen Eltern viel Kummer, weil er als Frauenheld galt und den Ruf des Königshauses gefährdete.

Ein bezaubernder Herr – Prince Albert

Aus diesem Grund besuchte ihn Victorias Gemahl Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha trotz seines schlechten Gesundheitszustandes. Bei diesem Besuch ging er mit seinem Sohn auf einen längeren Spaziergang bei kaltem und regnerischem Wetter, wobei sich beide eine Erkältung und Prinz Albert ein starkes Fieber einfingen. Historiker vermuten, dass Prinz Albert sowieso an einer chronischen Krankheit litt, aber das Fieber, das er sich in Maddingley Hall einfing, soll nicht unschuldig an seinem Tod gewesen sein.

Auf Grundlage dieser spannenden Hintergründe bastelte ich eine Geschichte in meinem Kopf zusammen. Auf Geister hatte ich keine Lust und die Königsgeschichten waren mir doch etwas zu durcheinander. Für diesen Artikel habe ich das Obrige alles noch einmal nachgelesen… Also schrieb ich über Sir John Hynde Cotton und die Umsiedlung.

Das Schöne an der Geschichte ist, wie symbolisch sie für die arrogante und herablassende aristokratische Klassengesellschaft steht. Ich wollte dieser Geschichte noch etwas mehr Würze verleihen und sie mit weiteren Konflikten versähen. So entstand das folgende Produkt:

Der Herr des Hauses befahl also qua Macht seines Adelsstatus besagtes Dorf aus seinem Sichtfeld zu entfernen. Empört über die Entscheidung und unwillig dem Befehl Folge zu leisten, begaben sich die Meute in aufgeregtem Durcheinander zum Eingang des Anwesens. Sir Cotton zeigte sich wenig beeindruckt von der Meute, wobei ihn doch eine gewisse Wut ergriff: Wie konnten es diese Menschen wagen, sich seinem Befehl zu widersetzen? Wer gab ihnen das Recht mit ihren dreckigen, losen Kleidern sich seinem glanzvollen Haus noch weiter anzunähern?
Er rief seine bewaffneten Männer zusammen: „Sendet das Gesindel dorthin zurück, wo es hergekommen ist“. Vom großen Eingang aus beobachtete er das Spektakel. Aber obwohl er eine große Zufriedenheit verspürte, war es ihm nicht genug. Da erblickte er inmitten der Meute ein Mädchen. Sie stach aus der Masse heraus, weil sie wie von einem magischen Schutzmantel umgeben war, sodass sie als einzige ihresgleichen nicht herumgeschubst wurde; als würden sie nicht wagen, ihre unschuldige Schönheit in irgendeiner Form zu besudeln. Mit einem Grinsen auf dem Gesicht flüsterte er zu einem seiner Männer: „Bring mir das Mädchen!“.
So kam es, dass das junge Mädchen, dessen Schönheit den ganzen Himmel aufleuchten ließ, in die Fugen des Sir Cotton geriet. Offiziell wurde sie als Dienstmädchen eingestellt, aber jeder in der Familie wusste, dass es seine Mätresse war. Für ein Dienstmädchen war sie viel zu temperamentvoll. Sie stellen sich sicher die Frage, wie denn das Mädchen über ihre Liaison dachte? Nun, sie dachte wohl gemischt über die Situation. Denn zum einen war Sir Cotton kein schlechtaussehender Mann. Groß gebaut und mit aristokratischer Selbstsicherheit war er keineswegs unattraktiv für die junge Frau. Außerdem beschenkte er sie mit Schmuck und schönen Gegenständen. Auf der anderen Seite fühlte sie jeden Tag einen Schmerz bei dem Gedanken an ihre Familie und ihr Volk.
Aber es dauerte nicht lange bis es kam, wie es kommen musste und sie schwanger wurde. Das konnte Sir Cotton nicht dulden. So verbannte er sie aus dem Haus und die schöne Jungfrau des Dorfes kam geschwängert zurück. Doch zu dieser Zeit wusste niemand im Dorf, dass sie schwanger war und sie suchte sich schnell einen Mann, um die Sache zu vertuschen.
Die Jahre gingen vorüber und der ihr geborene Sohn wuchs zu einem kräftigen & stolzen Erwachsenen heran. Und jeden Tag würde ihm seine Mutter von der grausamen Umsiedlung ihres Volkes erzählen. Nun, in seiner Natur halb Aristokrat war er zu stolz, um diese Schande über seine Familie ergehen zu lassen. Wie Arminius unter den Germanen organisierte er das Dorf und sie machten sich mit Fackeln und Schwertern, mit Bögen und Äxten auf den Weg zur Halle. Und hätte Sir Cotton das Dorf nicht aus seiner Sicht entfernen lassen, hätte er sicher von den lauten und auffälligen Vorbereitungen der Dorfler mitbekommen.
Sie kamen in der Nacht, sodass sie niemand erwartete und brannten alles nieder. Es begann mit den kräftigen Bäumen im Garten und ging über die symmetrischen und penibel gepflegten Büsche bis hin zu den Mauern der kostbaren Maddingley Hall. Die Wachmänner hatten sie in aller Dunkelheit niedergeschlagen, sodass Sir Cotton und seiner Familie nichts als die Flucht blieb. Und so kam es, dass sein eigener Bastard der neue Herr von Maddingley Hall wurde. Und als ersten Schritt ließ er das Haus wiederaufbauen und als zweites das Dorf wieder an seinen Ursprung zurücksiedeln.

Das ist keine exakte Wiedergabe meiner Geschichte. Am Tag des Kurses hatte ich lange nicht so ausführlich darüber schreiben können, aber es gibt meine Idee im Wesentlichen wieder.

Das Ende des Abends

Die letzten Geschehnisse und Kursinhalte des Abends sind mir unglücklicherweise entfallen. Auf jeden Fall fuhren mich Carrie & Ruth noch nach Hause. Wie auch immer: Es erwartet Euch noch ein letzter weiterer Teil meines magischen Wochenendes in Maddingley Hall!


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